Berufsorientierung in einer postmodernen, diversitätsgeprägten Gesellschaft – zum Konzept des Wissenschaftsforums Westerstede

In ihrem sehr lesenswerten Beitrag zum Wandel der Berufsorientierung skizzieren Melanie Behrens et al. in Orientierung an zentralen Thesen Ulrich Becks[1]  die Schwierigkeiten der Berufsorientierung Jugendlicher in der heutigen Gesellschaft in prägnanter Weise wie folgt: „Berufswahlprozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen finden gegenwärtig vor dem Hintergrund von Globalisierung, Finanzkrisen und vielfältigen Veränderungen des Arbeitsmarktes wie beispielsweise deregulierter Erwerbsarbeit, prekärer Beschäftigungsverhältnisse und schwierigerer Berufseinstiege statt. So gewinnen diskontinuierliche Erwerbsbiographien und flexible Lebensläufe heute eine gewisse Normalität und führen auch zu Veränderungen der privaten Lebenszusammenhänge. Zugleich hat sich die Berufsstruktur insbesondere in den letzten Jahren immer weiter ausdifferenziert und spezifiziert, so dass die Jugendlichen in ihrer Berufswahl gegenwärtig mit einer unübersichtlichen Anzahl an theoretisch wählbaren beruflichen Optionen konfrontiert sind.“[2]  Um den Bildungsauftrag von Schule zeitgemäß erfüllen zu können, wird sich das Verständnis von Schule wandeln müssen. Eine Möglichkeit, auf diese veränderte Struktur der Berufswahlprozesse zu reagieren, soll im Folgenden am Beispiel des Konzepts des Wissenschaftsforums Westerstede näher skizziert werden.

Der Versuch, dieses Konzept zu umreißen, beginnt mit dem Rekurs auf die literarische Figur des Wissenschaftlers Faust, mit der Goethe die Gestaltung eines Prototyps des modernen Menschen der Neuzeit gelingt, der in seinem rastlosen Streben nach Entgrenzung von den Fesseln des Glaubens, der Tradition und Natur in eine tiefe Sinnkrise stürzt, die ihn schließlich zu der bitteren Erkenntnis gelangen lässt, dass sein gesamtes, auf Wissens- und Erkenntniserwerb angelegtes  Studium der vier wissenschaftlichen Hauptdisziplinen Philosophie, Jura, Medizin und Theologie ihm dennoch bisher nicht hat dazu verhelfen können, zu erkennen, „was die Welt/ im Innersten zusammenhält, […]“. Der Wissenschaftler Faust, der sein Studierzimmer als „dumpfes Mauerloch“, als „Kerker“, empfindet, ist mit seinem eigenen Wissen nicht zufrieden, sieht im Gegensatz zu seinem Famulus Wagner den Lebenssinn nicht mehr darin, sich Wissen und Erkenntnis primär durch das Studium von Büchern anzueignen, in denen von anderen bereits Erworbenes niedergeschrieben wurde. Nicht mehr nur theoretisch will er Wissen erlangen, sondern es schauen und vor allem selbst daran teilhaben. Für ihn stellt die Reproduktion dieses bereits in Büchern angehäuften Wissens somit kein hinreichendes Fortkommen, keine Neuerung, keinen zusätzlichen Gewinn an Erkenntnis mehr dar, was letztlich in der Konsequenz geeignet erscheint, das gesamte System der Wissenschaft als Mittel der Erkenntnisgewinnung auf den Prüfstand zu stellen.

Der Wissenschaftler Faust erscheint so in seiner augenscheinlichen Erkenntniskrise vor diesem Hintergrund und gut zweihundert Jahre später als anthropologische Reflexionsfigur, um über die Bedeutung von „Wissen“ und „Erkenntnis“ in einer Gesellschaft nachzudenken,  in der „Wissen“ einerseits grundlegend zu einer strategischen Ressource postindustrieller Gesellschaften geworden ist und „Wissenschaft“ zunehmend begonnen hat, unsere bisher vertraute Lebenswelt auf allen Ebenen zu durchdringen: Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Neuroenhancement und Cyborgisierung, Bioökonomie und Mobilitätswandel, Eingriffe in die menschliche Keimbahn als Weg zum Homo fabricatus usw. mögen hier einige von den Stichworten sein, die diesen Entwicklungsweg zu skizzieren geeignet sind.

Auf der anderen Seite steht diese moderne postindustrielle Gesellschaft zunehmend im Begriff, sich auf einen postfaktischen Zustand hin zu entwickeln, in dem die Suche nach wissenschaftlichen Wahrheiten und Wissen über die Natur, die gesellschaftlichen Verhältnisse, den Menschen und die Technik insgesamt in Frage gestellt wird. Wissenschaftliches Streben nach Wissen und Erkenntnis, nach Erforschen, Erklären und Verstehen der Welt samt ihres Aufbaus erscheint in dieser Gesellschaft der postfaktischen Demokratie insofern zunehmend diskreditiert, als damit begonnen wird, politisch opportune, aber faktisch irrelevante Narrative („alternative facts“) statt Fakten als Grundlage für die politische Debatte, Meinungsbildung und Gesetzgebung heranzuziehen. Wie sehr auch der Wissenschaftsbetrieb von diesen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht verschont geblieben ist, haben die internationalen Großdemonstrationen des March for Science bewiesen, die sich für den Wert von Forschung und Wissenschaft und gegen „alternative Fakten“ und die Etablierung einer „postfaktischen Ära“ gerichtet haben.[3]

Was also hat vor diesem Hintergrund die Figur des Wissenschaftlers Faust mit der Komplexität von Berufswahlprozessen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun?  In welcher Hinsicht erscheint die anthropologische Reflexionsfigur des Wissenschaftlers Faust geradezu geeignet, die Relevanz und zugleich Ambivalenz von „Wissen“ und „Erkenntnis“ in der heutigen Zeit zu unterstreichen? Und was folgt daraus?

Im Gegensatz zu Voltaires Candide, der selbstzufrieden und selbstgewiss behauptet, in der „besten aller möglichen Welten“ zu leben[4], ist Fausts Grundhaltung in positiver Weise einerseits gekennzeichnet durch nie gesättigte Begierde, durch ewiges Unbefriedigtsein und ewige Neugierde. Sättigung, Befriedigung, Beruhigung oder Faulheit kommen in Fausts Denken nicht vor. Sein Streben nach fortschreitendem Erwerb von Wissen und Erkenntnis, das auch für den Menschen der heutigen Gesellschaft zentral bleibt für das Begreifen und das Erkennen von den Zusammen-hängen der Welt,  basiert in positiver Weise auf dem Nicht-Einverstandensein mit dem, was ist, basiert im Kern auf dem für jeglichen Erkenntnisfortschritt wichtigen Prinzip des Zweifels und Zweifelns, das auch der Wissenschaftler Galileo Galilei in Brechts gleichnamigen Drama in den höchsten Tönen lobt, wenn er feststellt: „Den gefeiertsten Wahrheiten wird auf die Schulter geklopft; was nie bezweifelt wurde, das wird jetzt bezweifelt.“[5]  Nur durch das auf dem Zweifel beruhende Streben, durch Nichteinverstandensein mit dem und Infragestellung dessen, was ist, kann der notwendige Wissens- und Erkenntnisfortschritt innerhalb einer Gesellschaft begründet werden. Dies ist und bleibt das positive Erbe der anthropologischen Reflexionsfigur Faust. Und dies ist und bleibt zentral für das Ausschärfen einer Haltung der Neugierde, des Wissen-Wollens, die auch heute noch in Zeiten gesellschaftlichen Wandels für die erfolgreiche Initiierung und Absolvierung von Berufswahlprozessen entscheidend ist.

Kann also einerseits dieses Prinzip des Zweifels und Zweifelns in positiver Hinsicht als fundamental angesehen werden, um weiteres Wissen zu erwerben und Erkenntnis zu erlangen, so drückt gerade diese auf dem Zweifel beruhende Rastlosigkeit des Faustschen Strebens in ihrer exzessiven Zurückdrängung jeglicher Grenzen zugleich die Gefahren aus, die von einer Wissenschaft der Moderne ausgehen, die sich ethischer Kontrollen entzieht und i.S. Galileis „Wissen um des Wissens willen aufzuhäufen“ beginnt, sodass in einer Zeit, in der es nach Sloterdijk „kein Wissen mehr (gibt), dessen Freund (philos) man sein könnte“[6], zunehmend die Gefahr besteht, dass der wissenschaftliche „Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte“[7], sodass „wir, ernüchtert bis auf die Knochen, […] entgeistert [stehn] vor den vergegenständlichten Träumen jenes instrumentalen Denkens, das sich immer noch Vernunft nennt, aber dem aufklärerischen Ansatz zur Emanzipation, auf Mündigkeit hin längst entglitt und als blanker Nützlichkeitswahn in das Industriezeitalter eingetreten ist“ (Christa Wolf)[8]. Die aktuelle Diskussion um die CRISPR-Cas9-Zwillinge aus China, deren Erbgut der chinesische Gentechniker He Jiankui verändert haben will, ist ein Beispiel dafür.

Neben dem Erhalt und der Förderung einer Haltung der Neugierde, des Wissen-Wollens, lehrt uns die anthropologische Reflexionsfigur Faust damit jedoch noch etwas anderes, nämlich ihre Kehrseite. Die Haltung des Strebens, die Haltung des „Mehr-Wissen-Wollens“, beinhaltet immer zugleich auch die Gefahr der Entgrenzung, der Schrankenlosigkeit, der Grenzüberschreitung.

Dementsprechend hat gerade die Reflexion und Berücksichtigung der ethischen Dimension wissenschaftlichen Handelns in einer auf Wissens- und Erkenntniserwerb bedachten „Risikogesellschaft“, in der es nach Ulrich Beck weitestgehend dem Einzelnen überlassen bleibt, seine persönlichen Lösungen für die von der Gesellschaft hervorgebrachten Probleme zu finden oder zu konstruieren, einen entscheidenden Stellenwert.  Ausgehend von Hans Jonas‘ neuer Ethik einer »Heuristik der Furcht« ist es daher erforderlich, dass jeder (auch und gerade der auf Wissens- und Erkenntniserwerb bedachte Einzelne) vor einer Handlung so viel Wissen als möglich über die denkbaren Konsequenzen und »Fernwirkungen« seines Tuns erworben und gesammelt hat; der schlechten Prognose muss i.S. Hans Jonas‘ daher stets Vorrang vor der guten eingeräumt werden: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde“, d.h. „Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit.“ [9]

Wollen wir dementsprechend auch künftig unsere komplexer gewordene Lebenswelt als mündige Bürger nach rationalen und ethischen Grundsätzen zugleich selbstbestimmt gestalten, ist es erforderlich, dass wir uns in dieser Zeit beschleunigter Lebensrhythmen und gesellschaftlicher Umwälzungen, in der Zukunft zunehmend als problematisch und nicht mehr per se als vertrauenswürdig angesehen wird, nicht einer pauschalisierenden Zivilisationskritik am als unübersichtlich empfundenen Wesen einer liberalen Gesellschaft der Moderne (Fritz Stern) hingeben[10] und quasi im Umkehrschluss und reflexhaft eine als harmonisch empfundene verlorene/geraubte/verwaiste Vergangenheit als Retrotopie nostalgisch und irrational zu idealisieren beginnen (Zygmunt Bauman)[11].

Nein, gerade weil in postfaktischen Zeiten ein „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ stattfindet, d.h. die heutige Wissenschaft in postfaktischen Zeiten nicht mehr über das Wahrheits- und Erklärungsmonopol früherer Jahrhunderte verfügt, erscheint es vor diesem Hintergrund einer komplexer gewordenen Realität vielmehr umso dringlicher, dass Wissen aus seinen Entstehungskontexten verstärkt in die Gesellschaft kommuniziert wird. Dies erscheint nicht zuletzt deshalb erforderlich, weil wissenschaftliches Wissen in der modernen Gesellschaft (entgegen dem Klischee des einsam in dem Elfenbeinturm eines kargen Studierzimmers forschenden Wissenschaftlers) in der modernen Gesellschaft grundlegend interdisziplinär ausgerichtet ist und in allen Gesellschaftsbereichen eine immer wichtigere Rolle spielt, von individuellen Fragen zu Gesundheit, Ernährung oder Konsum bis hin zu Entscheidungen in Politik und Wirtschaft. Hinzu kommt, dass sich die Menge des verfügbaren wissenschaftlichen Wissens stetig erhöht und Orte, Formen und Inhalte der Wissenschaftskommunikation diversifiziert haben[12], eine Zusammenführung wissenschaftlich und gesellschaftlich relevanten Wissens für den Einzelnen in der Welt der „Neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) immer schwieriger erscheint.  Legt man zugleich Klaus Meyer-Abichs umweltethischen Gedanken der „Mit-Welt“ zugrunde[13], ist es angesichts der zentralen Herausforderungen für den Fortbestand der Menschheit i.S. von Hans Jonas‘ Gebot der Folgenabschätzung („Heuristik der Furcht“) jedoch zwingend erforderlich, dass ein möglichst umfassendes Verständnis sowohl natur- als auch kultur- und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden initiiert und einer gesellschaftlichen Bewertung unterzogen wird und damit das bereits von C.P. Snow als hinderlich konstatierte Trennungsbewusstsein zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Intelligenz[14] sukzessive zugunsten eines offenen und transdisziplinären Dialogs zwischen den Wissenschaften aufgehoben werden kann.

 

Was folgt aus all dem für das Bildungssystem Schule und dessen Bildungsauftrag?

Als Teil der Gesellschaft hat Schule auf diese o.g. gesellschaftlichen Entwicklungen zu reagieren, will sie künftig weiterhin den Bildungsauftrag zeitgemäß erfüllen können. Gutgemeinte, aber im Kern verharmlosende Ratschläge zahlreicher Lehrkräfte, die nach erfolgreichem Abschluss einer zwölf- oder dreizehnjährigen Schulzeit als Kernbotschaft ihre Abiturreden darauf abstellen, Abiturienten zu ermuntern, „jetzt“ den lokalen oder regionalen Bereich verlassen zu können, um „nun in der Welt Erfahrungen zu sammeln“, werden angesichts der fundamentalen Brisanz dieser gesellschaftlichen Entwicklungen ebenso wenig ausreichen wie der selbstgewisse und auf das Prinzip Hoffnung gegründete Rekurs auf den Begriff einer vermeintlichen „Elite“, die sich den sich abzeichnenden Problemen letztlich erfolgreich stellen werde.

Zu den zentralen Bildungsaufgaben von Schule zählt neben der Wissens- und Kulturvermittlung auch das Verständnis für soziale, kulturelle und geschichtliche Zusammenhänge, die religiöse und politische Bildung und damit auch Allgemeinbildung.  Gerade weil aus den o.g. Gründen jedoch eine Zusammenführung wissenschaftlich und gesellschaftlich relevanten Wissens für den Einzelnen in dieser postmodernen, diversitätsgeprägten Welt der „Neuen Unübersichtlichkeit“ immer schwieriger erscheint, muss es ein wesentlichen Ziel nachhaltiger schulischer Bildung und wissenschaftspropädeutischen Lernens in der Oberstufe sein, im Zuge des Konzepts der Wissenschaftskommunikation frühzeitig in einen offenen, kritischen Dialog zwischen Schule, wissenschaftlicher Forschung und Öffentlichkeit einzutreten, um die in allen Gesellschafts-bereichen immer wichtigere Rolle von Wissenschaft zu thematisieren, die Kluft zwischen geistes- und naturwissenschaftlicher Kultur zu überbrücken und stattdessen den transdiszipli-nären Charakter wissenschaftlicher Forschung zu verdeutlichen.

Damit dies gelingen kann, werden in der gymnasialen Oberstufe schulischerseits verstärkt auch insbesondere Fähigkeiten zu vermitteln sein, die i.S. wissenschafts-propädeutischen Lernens geeignet sind, untersuchungsleitende Fragestellungen zu entwickeln, eine Auswahl an Untersuchungsstrategien für die Untersuchungsdurch-führung sowie die Ergebnispräsentation, – interpretation und -einordnung selbstständig zu entwickeln. Das bedeutet, dass es verstärkt darauf ankommen wird, Prozesse einer eigenständigen Entscheidungsfindung mit Blick auf selbstständige Problemlösungen zu initiieren, um durch die Verbindung von  Verfügungswissen und Orientierungswissen fundierte Einsichten in den Zusammenhang und das Zusammenwirken von Wissenschaften und das Erkennen von Grenzen wissenschaftlicher Aussagen zu ermöglichen und auf diese Weise zugleich das Bewusstsein der Selbstkompetenz und des Selbstkonzepts zu stärken. Nur auf diese Weise wird eine breite und von Sachkenntnis getragene Auseinandersetzung mit Wissenschaft, Technik und ihren verantwortbaren Folgen zu erzielen sein, die sich orientiert an grundlegenden Werten wie etwa der Toleranz, Aufgeschlossenheit und der Entwicklung eines Mitwelt-Bewusstseins.

Analog zu dem gültigen Erlass „Berufliche Orientierung an allgemein bildenden Schulen“ vom 17.09.2018[15] hat sich das Gymnasium Westerstede Europaschule auf der letzten Gesamtkonferenz im September 2018 einstimmig für die Durchführung eines Betriebs-praktikums in Jahrgang 9 und die Umsetzung eines Praktikums mit möglichst akademischer Ausrichtung im Jahrgang 11 ausgesprochen.[16]

Im Rahmen des Vorhabens „Berufliche Orientierung am Gymnasium Westerstede“ stellt das neu begründete Wissenschaftsforum Westerstede dabei einerseits einen Teilbaustein des Gesamtkonzepts zur Berufsorientierung dar, verfolgt dabei in Orientierung an den o.a. Erläuterungen zur Bedeutung der Wissenschaftskommunikation jedoch andererseits eigenständige Ziele und verfügt über eigenständige Organisationsstrukturen, die es im Folgenden zu erläutern gilt.

Das Wissenschaftsforum Westerstede als Projekt der Wissenschaftskommunikation

Hintergrund des „Wissenschaftsforums Westerstede“ ist es, angesichts der zunehmenden wissenschaftlichen Prägung heutiger Lebenswelten, in der „Wissen“ zur zentralen Ressource moderner Gesellschaften geworden ist, einen fundierten Beitrag zu einer begründeten Studien- und Berufsorientierung unserer Schülerinnen und Schüler zu liefern. Dies setzt angesichts des gesellschaftlichen Wandels u.a. eine Reflexion des schulischen Bildungsbegriffs und des Selbstverständnisses von Schule voraus, der die zentrale Rolle der Wissenschaftskommuni-kation zwischen Schule, Forschung und Öffentlichkeit in den Fokus nimmt und den inter- und transdisziplinären Dialog der Wissenschaftsdisziplinen thematisiert.

Künftige Abiturienten sind gehalten, das öffentliche Leben in sozialer und ethischer Verantwor-tung mitzugestalten. Zunehmend erforderlich ist es daher, dass fundierte Einsichten in die Zusammenhänge und das Zusammenwirken von Wissenschaft vermittelt werden, um eine von Sachkenntnis getragene Auseinandersetzung mit Wissenschaften, Technik und ihren Folgen zu initiieren, die Voraussetzung für eine in sozialer und ethischer Hinsicht verantwortliche Mitgestaltung öffentlichen Lebens darstellt.

Wesentliche Ziele des Wissenschaftsforums sind es daher,

  • Begeisterung von Schülerinnen und Schülern für Wissenschaft und wissenschaftliche Forschung zu wecken;
  • Einsichten in die Zusammenhänge und das interdisziplinäre Zusammenwirken von Wissenschaft zu vermitteln und zugleich zu einer Erkenntnis der Grenzen wissenschaftlicher Aussagen beizutragen;
[1] Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Suhrkamp Verlag: Frankfurt a.M. 11986,S. 205 ff.
[2] Behrens, Melanie, Petra Ganß und Angelika Schmidt-Koddenberg, Berufsorientierung in einer postmodernen, diversitätsgeprägten Gesellschaft. -In: Brüggemann, Tim und Katja Driesel-Lange, Instrumente zur Berufsorientierung: Pädagogische Praxis im wissenschaftlichen Diskurs, Waxmann-Verlag: Münster 2017, S. 21-35
[3] Vgl. hierzu https://www.marchforscience.com/2018
[4] Jean François Arouet de Voltaire, Candid oder Der Optimismus (1759). -In : Voltaire, Romane und Erzählungen. Zweiter Band, Goldmann Verlag: München 1961
[5] Brecht, Bertolt, Leben des Galilei, Suhrkamp Verlag: Berlin, 151972, S. 9
[6] Sloterdijk, Peter O., Kritik der zynischen Vernunft. Erster Band, Suhrkamp Verlag: Frankfurt a.M. 11983, S.8
[7] Brecht, Bertolt, ebd., S.125 f.
[8] Wolf, Christa, Büchner-Preis-Rede, anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises am 16.10.1980. -In: ders., Lesen und Schreiben. Neue Sammlung. Essays, Aufsätze, Reden, Luchterhand Verlag: Darmstadt und Neuwied 31982, S. 319-332; S. 320
[9] Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Suhrkamp Verlag: 11984, S. 36
[10] Stern, Fritz, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Klett-Cotta: Stuttgart 22018 (1961), S. 7-16
[11] Bauman, Zygmunt, Retrotopia, Suhrkamp Verlag: Berlin 2017, S. 10-17
[12] Vgl. hierzu Mike S. Schäfer / Silje Kristiansen / Heinz Bonfadelli (Hrsg.), Wissenschaftskommunikation im Wandel, Von Halem Verlag 2015
[13] Meyer-Abich, Klaus Michael, Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt, Hanser Verlag: München 1990
[14] Vgl. hierzu Kreuzer, Helmut (Hrsg.), Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P. Snows These in der Diskussion, Deutscher Taschenbuch Verlag: München 1987 (1967, 1969)
[15] Berufliche Orientierung an allgemein bildenden Schulen lt. RdErl. d. MK vom 17.09.2018
[16] Siehe hierzu die Kurzfassung des Konzepts „Berufliche Orientierung am Gymnasium Westerstede“ des BO-Beauftragten Herrn Kleen
  • Die Wissenschaftskommunikation von Schule, Forschung und Öffentlichkeit zu initiieren und intensivieren;
  • Schülerinnen und Schüler zu einer von Sachkenntnis getragenen Auseinandersetzung mit Wissenschaften, Technik und ihren Folgen zu verhelfen und ihnen so zu einer begründeten Studien- und Berufsorientierung beizutragen.

Das Wissenschaftsforum Westerstede, das sich mit seinem Angebot an Forschungspraktika an wissenschaftlichen Instituten, sozialen, kulturellen Institutionen primär an den Adressatenkreis besonders interessierter und motivierter Schülerinnen und Schüler richtet, ruht dabei auf zwei zentralen Säulen, dem Stipendiaten- und dem Referentenprogramm:

Im Rahmen des Stipendiatenprogramms, das u.a. auch auf die Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses abzielt, können Schülerinnen und Schüler in Kooperation mit wissenschaftlichen Instituten, sozialen, kulturellen und politischen Institutionen während der Ferienzeit (vordringlich während der Oster- und Herbstferien) Praktikumsaufenthalte durchführen. Ziel ist es, dass die Stipendiaten in Zusammenarbeit mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Institute Forschung soll vor Ort erfahren, nicht nur als Ergebnis, sondern als Prozess.

Das Stipendiatenprogramm selbst, für das sich die interessierten Schüler/-innen beim Organisationsteam bewerben müssen, beinhaltet nachfolgende Forschungs- und Praktikumsmodule:

  • Modul 1 Umwelt, Energie, Leben

In diesem Modul werden Praktikumsplätze vermittelt, u.a. im Bereich Meeresbiologie, Klimaforschung und Klimafolgen, Biodiversität, Medizin und Medizingeschichte, Neurowissenschaften, Neuro-Enhancement, Molekularbiologie etc.

  • Modul 2 Kulturwissenschaften

Im Rahmen dieses Moduls werden Praktikumsplätze in unterschiedlichen Bereichen der Kulturwissenschaften vermittelt (z.B. Museen, Kunsthallen, Bibliothekswesen, Ethikgeschichte, Gedenkstätten, Theater, Ethnologie, Archäologie, Antropologie, Musik- und Medienwissenschaft etc.

  • Modul 3 Technik und Information

Im Rahmen dieses Moduls werden Praktikumsplätze vermittelt u.a. im Bereich Technik und Informationswissenschaften, Automatisierungstechnik, Intelligente Systeme, Computerwissenschaften und Neurowissenschaften, biohybride Materialsysteme etc.

  • Modul 4 Materie

Im Rahmen dieses Moduls werden Praktikumsplätze vermittelt u.a. im Bereich Materie, z.B. Forschungszentrum Jülich, DESY Zeuthen/Hamburg, CERN Genf, Festkörperforschung, Astrophysik etc.

  • Modul 5 Medien und Journalismus

Im Rahmen dieses Moduls werden Praktikumsplätze vermittelt u.a. im Bereich Bibliothekswesen, Mediendesign, Rundfunk- und Fernsehen, Redaktionen überregionaler Zeitungen etc.

  • Modul 6 Politische Institutionen und NGOs

Im Rahmen dieses Moduls werden Praktikumsplätze vermittelt, u.a. im Bereich Deutscher Bundestag, Niedersächsischer Landtag, Abgeordnetenbüros, Fraktionen, Europäische Institutionen, NgOs wie Greenpeace, Ökoinstitut Freiburg, BUND, WWF, praktische politische Arbeit etc.

  • Modul 7 Pathways in Europe

Im Rahmen dieses Moduls sollen durch grenzüberschreitende sog. Konsortial-partnerschaften Möglichkeiten eröffnet werden, in europäischen Bildungsinstitutionen wie z.B. Hochschulen oder wissenschaftlichen, kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Instituten und Institutionen in Europa Auslandspraktika durchzuführen. Angestrebt wird hier zunächst eine Kooperation mit europäischen Partnerschulen wie z.B. in Polen oder Litauen, Frankreich (u.a. Centre Marc Bloch).

  • Modul 8 Personen der Zeitgeschichte

Aus dem Unterrichtsgeschehen entwickelt sich manchmal die Nachfrage der Schüler/-innen nach Persönlichkeiten der Zeitgeschichte aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Kulturbereich oder Geschichte, die im thematischen Zusammenhang mit unterrichtlichen Fragestellungen stehen. Das Wissenschaftsforum vermittelt hier die Möglichkeit der Durchführung von Interviewreihen (z.B. Interview mit Esther Bejarano als Auschwitzüberlebende oder Interview mit Roland Jahn, Stasi-Unterlagenbehörde)

Zentral für die Durchführung des Stipendiatenprogramms sind dabei die Bausteine „Auswahl“, „Vorbereitung“, „pädagogische Betreuung“ und „Reflexion des Aufenthalts“.

  • Baustein 1: Auswahl

Die Bewerberinnen und Bewerber müssen beim Organisationsteam vollständige und aussagekräftige Bewerbungsunterlagen einreichen (Anschreiben, Lebenslauf, Motivationsschreiben; gewünschte Forschungsinstitute, Interessensschwerpunkte, gesonderte Fragestellungen etc.), das zugleich noch Beratungsgespräche mit den Interessenten führt, bevor es kriterienbezogen auswählt.

  • Baustein 2 und 3: Vorbereitung und pädagogische Begleitung

Während der Durchführung des gesamten Stipendiums werden die Stipendiatinnen und Stipendiaten durch die Lehrkräfte des Organisationsteams persönlich oder unter Zuhilfenahme medialer Unterstützung (Telefon, Skype etc.) beraten und unterstützt und u.a. auf bestehende Rechtsvorschriften hingewiesen.

Zugleich müssen sie während dieser Phase eigenständig Kontakt mit den wissenschaftlichen Instituten aufnehmen und sich von den für sie abgestellten wissenschaftlichen Mitarbeitern im Hinblick auf die Beantwortung ihrer Fragestellungen beraten lassen; zugleich erhalten sie auf diese Weise Einblicke in die sie interessierenden wissenschaftlichen Bereiche und erhalten erste Informationen über die interessierende Ausbildungsgänge und Berufsbilder.

Während des Zeitraums des allgemeinen Praktikums[1] werden die Stipendiatinnen und Stipendiaten in einer Arbeitsgemeinschaft zusammengefasst, die sie auf das Praktikum inhaltlich vorbereitet. Aufgabe jedes einzelnen Stipendiaten ist es, den Mitstipendiaten die jeweiligen Institute und Forschungsabteilungen, die sozialen, kulturellen oder politischen Institutionen bzw. die jeweiligen vorzustellen, bei denen sie ihr Praktikum durchführen.

  • Baustein 4:  Reflexion des Praktikumsaufenthaltes

Wichtige Aufgabe des Stipendiaten im Anschluss an die Durchführung des Praktikums ist es, in Anlehnung an den Grundgedanken der Wissenschaftskommunikation seine Praktikumsergebnisse anderen Mitschülern anderer Oberstufenkurse vorzustellen.

Darüber hinaus ist der Stipendiat verpflichtet, Artikel über sein Praktikum und sein Stipendium sowohl auf der eigenen Projekt-Website des Wissenschaftsforums, in Schülerzeitungen als auch der Lokal- oder Regionalpresse zu veröffentlichen. Des Weiteren hat er im Rahmen des Referentenprogramms in einem öffentlichen Vortrag über die Forschungstätigkeit während seines Praktikums zu berichten.

Das Wissenschaftsforum Westerstede wird finanziell unterstützt durch die EWE Stiftung Oldenburg und den Förderkreis des Gymnasiums Westerstede.  Unabhängig davon wird es wichtig sein, hier weitere Fördermöglichkeiten auszuloten (u.a. über die Volkswagen Stiftung bzw. regionale Unterstützer).

Wissenschaft im Dialog: Das Referentenprogramm des Wissenschaftsforum Westerstede

Neben dem Stipendiatenprogramm ist das Referentenprogramm die zweite wichtige Säule des Vorhabens „Wissenschaftsforum Westerstede“, mit dessen Hilfe in Vorbereitung auf die bzw. im Anschluss an die Praktika eine jeweils themenbezogene öffentliche Veranstaltungsreihe mit Wissenschaftlern und Personen des öffentlichen Lebens an unserer Schule als Vortrags- und/oder Diskussionsveranstaltungen durchgeführt werden soll. Zugleich dient dieses Programm ebenso wie das Stipendiatenprogramm dazu, grundlegende Einsichten in die Zusammenhänge und das Zusammenwirken von Wissenschaft zu liefern, sodass eine von Sachkenntnis getragene Auseinandersetzung mit Wissenschaften, Technik und ihren Folgen initiiert und Möglichkeiten einer begründeten Studien- und Berufsorientierung geschaffen werden.

Während dieser öffentlichen Verstaltungsreihen des Referentenprogramms sollen zugleich Schüler und Schülerinnen, die Praktikumsaufenthalte absolviert haben, die Ergebnisse ihrer Forschungsaufenthalte öffentlich vorstellen. Ziel dabei ist es, das Projekt „Wissenschaftsforum“ sukzessive umzusetzen und an der Europaschule Gymnasium Westerstede dauerhaft zu implementieren.

Mögliche Elemente des Referentenprogramms sind dabei z.B.:

  • Einführung in den Themenkreis der Abendveranstaltung, Vorstellung der Referentin/des Referenten durch eine Stipendiatengruppe, Vorstellung der eigenen Erfahrungen an einem Forschungszentrum in Form eines öffentlichen Vortrags.
  • Kooperation mit lokalen Buchhandlungen (Büchertische zu den Veranstaltungen), Erstellen von bibliographischen Listen aktueller Literatur zu den jeweiligen Vortragsthemen (z.B. Kooperation mit den Seminarfächern)
  • Erstellung von Veranstaltungsplakaten, Informationsmaterialien (Flyer, Broschüren etc.) für die jeweiligen Abendveranstaltungen (z.B. in Kooperation mit der FG Kunst)
  • Erarbeitung von Ausstellungskonzepten zu den jeweiligen thematischen Schwerpunkten (z.B. Kooperation mit den Seminarfächern) usw.
  • Journalistische Publikationelemente in Zusammenrbeit mit der Lokal- und Regionalpresse (z.B. Nordwest-Zeitung); Sonderseiten, Homepage- und Schülerzeitungsartikel etc.

Mittel- bis langfristig strebt das Wissenschaftsforum Westerstede eine inhaltliche Zusammenarbeit mit dem Projekt „Innovative Hochschule Jade-Oldenburg!“[2] an, das ein vom BMBF gefördertes Verbundprojekt der Universität Oldenburg, der Jade Hochschule und des OFFIS von der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg und der Jade Hochschule darstellt (Laufzeit: 01.01.2018 – 31.12.2022). Im dort vertretenen Teilprojekt SchülerWissen sollen Schülerinnen und Schüler als künftige Studierende für wissenschaftliche Fragestellungen begeistert und so an aktuelle universitäre Forschungsergebnisse herangeführt werden, um ihnen zugleich als potentiellen künftigen Fachkräften zugleich regionale berufliche Perspektiven aufzuzeigen – ein Vorhaben, das unter Bezugnahme auf die Aussagen des Brechtschen Wissenschaftlers Galileo Galilei in hervorragender Weise viele Schnittmengen zu unserem eigenen Projektvorhaben aufweist:

„[…] da es so ist, bleibt es nicht so. Denn alles bewegt sich, […] Eine neue Zeit ist angebrochen, ein großes Zeitalter, in dem zu leben eine Lust ist.“   [3]

[1] Siehe hierzu das Konzept „Berufliche Orientierung am Gymnasium Westerstede“ des BO-Beauftragten des Gymnasiums Westerstede, das für die Durchführung des Praktikums in der Einführungsphase als Durchführungszeitraum den Monat Januar vorsieht. Das Konzept des Wissenschaftsforums Westerstede sieht hier in Absprache mit den jeweiligen wissenschaftlichen Instituten explizit als Durchführungszeitraum die Zeit der Herbst- oder Osterferien vor.

[2] Vgl. hierzu weitere Informationen auf der Projektwebsite https://www.ihjo.de/

[3] Brecht, Bertolt, a.a.0., S.8f., S.12